NIKI DE SAINT PHALLE: DIGITORIAL® ZUR AUSSTELLUNG

INTRO

Niki de Saint Phalle 3. FEB. – 21. MAI 2023

Provokateurin, Mitbegründerin des Happenings, Schöpferin einer eigenwilligen, unverwechselbaren Formensprache und der weltberühmten „Nanas“: Niki de Saint Phalle schwebt gleichsam über allen Kategorien. Das Digitorial zur Ausstellung gibt einen Überblick über das Werk der Künstlerin, das sehr viel facettenreicher und subversiver ist als gemeinhin bekannt.

ZERSTÖREN UND ERSCHAFFEN

ZERSTÖREN UND ERSCHAFFEN 01

Niki de Saint Phalle schießt mit einem Revolver auf ihr Werk, 1961

Ein Knall, zerplatzender Gips, Farbe: Im Frühjahr 1961 schießt Niki de Saint Phalle das erste Mal auf eines ihrer Werke. Sie zielt damit zugleich auf gesellschaftliche Normen und die Grenzen der bürgerlichen Kunstwelt.

Die Idee, die eigenen Werke zum Ziel radikaler Schießaktionen werden zu lassen, entwickelt Niki de Saint Phalle im Februar 1961 während ihrer Teilnahme an der Pariser Gruppenausstellung „Comparaisons, Peinture − Sculpture“ („Vergleiche, Malerei – Skulptur“). Die Künstlerin lässt dort das Publikum mit Dartpfeilen auf die Darstellung eines Mannes werfen, dessen Kopf sie durch eine Zielscheibe ersetzt hat. Neben ihrer partizipativen Arbeit präsentiert der belgische Künstler Bram Bogart ein reinweißes Relief, was in de Saint Phalle die Vision eines von Farbe überströmten, „blutenden“ Bildes auslöst.

Für ihre so bezeichneten „Schießbilder“ montiert die Künstlerin Farbbeutel, Konservendosen, Seile oder Plastikgegenstände und mit Spaghetti oder Eiern gefüllte Behälter auf einer Holzplatte und überzieht diese mit weißem Gips; auf das entstandene Relief wird dann geschossen. In ihrem „Schießbild“ von 1961 folgt die Anordnung der Objekte noch keiner konkreten Erzählung. Erst in den späteren Arbeiten entwirft de Saint Phalle zusammenhängende Szenarien, die ihre spektakulären Schießaktionen noch deutlicher als Protest gegen gesellschaftliche Zwänge und politisch motivierte Gewalt kennzeichnen. Jede Aktion zielt nicht allein darauf, das ursprüngliche Bild zu zerstören, sondern mündet gleichzeitig in die zufällige Entstehung eines neuen Werks.

Tableau tir, 1961 (Schießbild)

Der Zufall ist nur eine Komponente im Entstehungsprozess von Niki de Saint Phalles „Schießbildern“. Die Künstlerin ermöglicht auch ihrem Publikum, aktiv einzugreifen und selbst auf die Werke zu schießen. So gibt de Saint Phalle ihre alleinige Autorinnenschaft zugunsten eines Miteinanders von Künstlerin, Werk und Publikum auf.

Ich schoss, weil ich fasziniert war zu sehen, wie das Gemälde blutet und stirbt.

Niki de Saint Phalle

Die Schießaktionen de Saint Phalles zählen zur künstlerischen Ausdrucksform des Happenings, direkt mit Zuschauenden improvisierte Ereignisse. In den 1950er-Jahren treten etwa Allan Kaprow in New York oder die japanische Avantgarde-Gruppe „Gutai Art Association“ (japanisch „Gutai Bijutsu Kyōkai“) erstmals in Interaktion mit ihrem Publikum. Das Ziel ist, den traditionellen Kunstbegriff zu erweitern und die strikte Trennung der Kunstgattungen aufzubrechen. In Frankreich vertritt die künstlerische Bewegung der „Nouveaux Réalistes“ um den Kunstkritiker Pierre Restany die Forderung nach einer neuen Kunst. Niki de Saint Phalle wird als einzige weibliche Künstlerin 1961 Mitglied der Gruppierung.

Mehr zur Bewegung der „Nouveaux Réalistes“

Am 27. Oktober 1960 unterzeichnen die Künstler Yves Klein, Arman, François Dufrêne, Raymond Hains, Martial Raysse, Daniel Spoerri, Jean Tinguely und Jacques Villeglé in Paris gemeinsam mit Pierre Restany die Gründungserklärung der „Nouveaux Réalistes“. Sie lehnen die abstrakte Kunst der Nachkriegszeit ab, die sie als ihrer Lebenswirklichkeit fern empfinden. Stattdessen fordern sie, die Verbindung von Kunst und Realität neu zu definieren. Künstlerische Impulse und Materialien findet die Gruppierung im alltäglichen Leben: Die Künstler integrieren Fundstücke von Schrottplätzen, Abfälle, gewöhnliche Gebrauchsgegenstände und Plakatabrisse in ihre Werke. Neue künstlerische Methoden und Techniken, die auch das Publikum als Mitwirkende im Herstellungsakt berücksichtigen, werden in gemeinsamen Ausstellungen und Happenings manifestiert. Weitere Künstler, darunter Christo und Gérard Deschamps, treten der Gruppierung bis zu ihrer Auflösung 1970 bei.

Old Master (non tiré), um 1960/61 (Alter Meister [nicht geschossen])
Old Master – Séance Galerie J, 30.6.–12.7.1961, Paris (Alter Meister – Veranstaltung Galerie J)

Die beiden Werke Niki de Saint Phalles demonstrieren anschaulich zwei unterschiedliche Zustände: Auf das linke Werk aus der Serie der „Schießbilder“ wurde nicht geschossen. Die Gipsoberfläche wölbt sich unbeschädigt über darunterliegende, an einem Drahtgitter fixierte Objekte und Farbbeutel. Hingegen hat sich im rechten Werk ein breiter Fluss aus Farbe unkontrolliert über die Bildoberfläche und den goldenen Rahmen ergossen. Auf dieses Gipsrelief wurde im Sommer 1961 im Rahmen der ersten Pariser Einzelausstellung der Künstlerin in der Galerie J „Feu à volonté“ („Feuer frei“) geschossen.

Die breiten, auffallenden Rahmen beider Werke erinnern an traditionelle Ölgemälde, darauf verweisen ebenso die Werktitel „Alter Meister“. Humorvoll kommentiert de Saint Phalle das Aufkommen neuer künstlerischer Methoden in Abkehr zur klassischen Malerei auf ebenem Grund.

Schießaktion in den USA, 1962, dokumentarisches Material, integriert in den Film „Niki de Saint Phalle“, Francois de Menil und Monique Alexandre, 1982, Filmausschnitt

Während ihrer Schießaktion in den USA im Frühjahr 1962 tritt Niki de Saint Phalle erstmals in einem weißen Schießanzug vor ihr Publikum. Assistiert von Ed Kienholz schießt sie selbst in den Hügeln oberhalb von Malibu an der kalifornischen Pazifikküste auf ihr Werk. Sie inszeniert sich als selbstsichere, beherrschende Künstlerin in einem sich rituell wiederholenden Schaffensprozess. In der männlich dominierten Kunstwelt repräsentiert Niki de Saint Phalle eine starke weibliche Position und widersetzt sich damit dem gesellschaftlich vorherrschenden Frauenbild jener Zeit. Im Jahr 1963 beendet sie die Werkserie der „Schießbilder“, deren Erschaffung nach eigener Aussage wie eine Sucht auf die Künstlerin wirkt.

WIE ALLES ANFING

Ihren Lebensweg als Künstlerin beginnt Niki de Saint Phalle 1953 nach der Behandlung eines Nervenzusammenbruchs. Sie fasst den Entschluss, die im Jahr zuvor begonnene Schauspielausbildung nicht weiterzuverfolgen, sondern sich als bildende Künstlerin zu etablieren. Bald wendet sie sich von der klassischen Malerei ab und gestaltet zunächst farbige Assemblagen – Kunstwerke, auf deren Bildträgern plastische Objekte nach dem Collageprinzip montiert sind.

Nightscape, 1959 (Nachtlandschaft)

1955 besucht Niki de Saint Phalle den „Park Güell“ in Barcelona. Inspiriert durch die von Antoni Gaudí erschaffene Anlage setzt sie in „Nachtlandschaft“ Steine, Perlen und Glasscherben auf die Bildfläche. Die kleinteiligen Objekte ergänzen die malerisch angelegte, mehrfarbige Landschaft unter einem dunklen Sternenhimmel.

Die in Weiß getropften Sterne erinnern an die von Jackson Pollock geprägte Dripping-Technik, bei der flüssige Farbe auf die Leinwand getropft, gespritzt oder geschleudert wird. De Saint Phalle malt vereinzelt figurative Bildelemente, etwa Tiere, Bäume und Pflanzen sowie eine menschliche Figur, um ihre Landschaft zu bevölkern. Gefundene Objekte wie Plastikspielzeug, das ihre späteren Assemblagen dominiert und kritisch auf die einsetzende Massenproduktion von Kunststoffen verweist, fügt die Künstlerin bereits in diesem Werk unauffällig hinzu.

Für mich war und ist mein künstlerisches Schaffen die große Liebe meines Lebens.

Niki de Saint Phalle

In ihrem Werk „Arbeitshandschuh“ befestigt Niki de Saint Phalle neben farbigen Glasscherben und Holzwolle auch vorgefundene Objekte wie einen bemalten Gummihandschuh und eine zerdrückte Plastikflasche auf einer Holzplatte. Diese Gebrauchsgegenstände verlieren im Kontext der Arbeit ihre ursprüngliche Funktion. Sie werden innerhalb eines transformativen Herstellungsaktes unauflöslich Teil des Kunstwerks. Durch den Einsatz von Fundgegenständen verschränkt de Saint Phalle ihre Kunst mit der Lebensrealität der Betrachtenden.

Arbeitshandschuh, 1960/61

JUNG, ZORNIG, FRAU

JUNG,
ZORNIG,
FRAU
02

Die seit 1962 entstandenen Assemblagen und Skulpturen von Niki de Saint Phalle zeugen von der Bedeutung, die das Thema „weibliche Identität“ für sie hat.

Die Künstlerin konfrontiert die Betrachtenden mit den in westlichen Gesellschaften jener Zeit vorherrschenden Rollen der Frau und beschäftigt sich auch mit deren Darstellungen in den Massenmedien. Zugleich feiert sie den weiblichen Körper, seine Fruchtbarkeit und Kraft sowie die gesellschaftlichen Errungenschaften, die Frauen im 20. Jahrhundert in Europa und in den USA erstritten haben.

De Saint Phalle befasst sich immer wieder mit Figuren wie der Braut, der Mutter und der Gebärenden.

Durch ihre Größe und Masse wirken diese Figuren einerseits wie machtvolle Frauengestalten mit üppigen Formen, andererseits geraten ihre Körper, deren Oberflächen von Plastikspielzeug und Fundobjekten übersäht sind, zu Bühnen eines makabren Spektakels. Diese Figuren werden oft als Experimente mit den „Möglichkeiten des Frauseins“ gedeutet. Sie lassen sich aber zugleich als sozialkritische Untersuchungen weiblicher Identitäten sehen, mit denen traditionelle Frauenbilder infrage gestellt werden.

Ich war wütend auf die patriarchalische Gesellschaft, auf die Rollen, die man mir auferlegte […]. Ich wollte ich selbst sein.

Niki de Saint Phalle

Die Frau wird hier als Gebärende gezeigt. Ihr entblößter, fragmentierter Körper lässt die Betrachtenden direkt in ihr Inneres blicken; aus ihrem Schoß ragt kopfüber ein miniaturenhaft kleines, neugeborenes Kind heraus. Der in Zartrosa eingefärbte weibliche Körper ohne Beine ist dabei aus kleinteiligen Gegenständen wie intakten oder zerlegten Babypuppen, Plastikblumen, kleinen Flugzeugen sowie weiteren Spielzeugfiguren gestaltet. Im Bereich des Bauches ist eine spinnenähnliche Gestalt erkennbar. Diese verzehrt scheinbar die angedeuteten Eingeweide im Inneren des Leibs und lässt an verschiedene Bedrohungen denken: das die Mutter vereinnahmende Baby – die das Baby verzehrende Mutter.

Die Auslegung von Niki de Saint Phalles Werken ist jedoch nie auf eine eindeutige Lesart angelegt. So ruft das Baby zwischen den Beinen der Frau zugleich Assoziationen mit einem Phallus hervor – einem Symbol der männlichen Dominanz, das sich die Frau scheinbar aneignet.

L’Aaccouchement rose, 1964 (Die rosa Geburt)

Die Figur der Braut stellt Niki de Saint Phalle manchmal stehend, manchmal sitzend unter einem Baum dar. Ihre weiße Kleidung symbolisiert im westlichen Kontext traditionell Reinheit und Unschuld, sie markiert zugleich den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Die Bräute de Saint Phalles verkörpern verschiedene Aspekte weiblicher Existenz. Sie deuten einerseits auf die Heirat als Ziel damaliger Erziehung junger Frauen hin. Zugleich stellt die Künstlerin mit diesen Figuren die von der westlichen Gesellschaft vorgegebene Rolle der Frau infrage, indem sie die Romantisierung des Bildes einer glücklichen Braut aufbricht.

„Die Braut zu Pferd“ präsentiert sich voller Schwung und Kraft. Es handelt sich hier um die mehr als eine Tonne schwere, lebensgroße Bronzefassung eines älteren Werks der Künstlerin. In der in Assemblagetechnik geschaffenen Urfassung vereint die Skulptur bescheidene Materialien wie künstliche Blumen oder Spielzeugtiere und -figuren; die Bronzefassung wird 1997 von der französischen Kunstgießerei Gilbert Clementi angefertigt. Um ihre verschiedenen Projekte selbst finanzieren zu können, schafft de Saint Phalle immer wieder neue Editionen ihrer Arbeiten, darunter Skulpturen.

Das Ross verleiht der „Braut zu Pferd“ eine Dynamik, die auf eine seit der Antike verbreitete Kunstform anspielt: das Reiterstandbild. Dieses repräsentiert traditionell ein hierarchisches Machtgefüge und ist Teil einer überwiegend männlichen Ikonografie. Dennoch gibt es auch Beispiele von berittenen Anführerinnen. Am bekanntesten ist Jeanne d’Arc – ein Vorbild für Niki de Saint Phalle, das das Schicksal einer historisch realen emanzipierten Frau verkörpert. In diesem Sinn regt „Die Braut zu Pferd“ zum Nachdenken über das Potenzial der Reiterin an.

La Mariée à cheval, 1997
(Die Braut zu Pferd)

1965 entsteht eine neue Werkserie, die Niki de Saint Phalle mit „Nanas“ betitelt. In diesen weiblichen Figuren mit betont üppigen Formen wird das Vertrauen auf die Zukunft eines anderen Frauseins in der Gesellschaft spürbar. Die farbig bemalten Skulpturen zeigen nicht mehr die Ambiguität der früheren Assemblagen de Saint Phalles. Es sind üppige Frauen mit prallen Busen, runden Bäuchen, großen Hintern sowie kleinen Köpfen, die Lebensfreude und Stärke ausdrücken.

Alle Macht den Nanas!

Niki de Saint Phalle

Die Bezeichnung „Nana“ erinnert an das englische Wort „Nanny“ („Kindermädchen“) und umschreibt lautmalerisch die Vorstellung von Rundheit und Fülle. Zugleich ruft sie den Roman selben Titels des französischen Schriftstellers Émile Zola über eine Pariser Prostituierte in Erinnerung.

Die ersten „Nanas“ de Saint Phalles sind noch aus Draht, Papiermaschee, Stoff und Wolle gefertigt. Wenig später arbeitet de Saint Phalle an stabileren Konstruktionen aus stark lösungsmittelhaltigem Polyester, einem im Bootsbau verwendeten Material. Dieser neue Werkstoff macht die Figuren wetterbeständig und robust. Durch das Einatmen giftiger Dämpfe bei der Herstellung zieht sich de Saint Phalle jedoch einen Lungenabszess zu, der ab 1974 zu mehreren Krankenhausaufenthalten führt.

Sinnlich und vor Stärke strotzend breitet die „Schwarze Mosaik-Nana“ ihre kräftigen Arme aus und hebt graziös ein Bein zum Tanz. Vom kleinen Kopf ohne Gesicht über die halbkugeligen Brüste und die ausladenden Hüften bis hin zu den Füßen ist alles kurvig an der voluminösen Figur. Die überlebensgroße, mit Mosaiksteinen aus Glas und Keramik geschmückte Polyesterskulptur strahlt Unbeschwertheit aus. Diese „Nana“ verkündet mit ihrer lebhaften Körperhaltung ihre Freude darüber, Frau zu sein und etwas erschaffen zu können.

Nana mosaïque noire, 1999
(Schwarze Mosaik-Nana)

Von einem „Jubelfest der Frau“ spricht die Künstlerin in Bezug auf ihre „Nanas“, von Figuren, die weder von Männern noch von ihrem Leben unterdrückt werden. Diese Frauengestalten werden zu de Saint Phalles neuer „Waffe“ im Einsatz gegen männliche Wunschvorstellungen des auf ein sexuelles Objekt reduzierten weiblichen Körpers.

Wenn sie in verschiedenen Posen und voller Lebensfreude ihre Erotik und Körperlichkeit leben, artikulieren die „Nanas“ den Wunsch nach Befreiung von sexueller Unterdrückung und Hemmung. Die mit diesen Figuren propagierte Ästhetik entspricht bis heute nicht dem vorherrschenden Schönheitsideal des westlichen Kulturraums und kann als frühe Form von Body Positivity gedeutet werden.

  • Jacqueline ou Anne (Nana boule rouge), 1969 (Jacqueline oder Anne [Rote Kugel Nana])

    Ihre Arme sind an den Oberkörper gepresst, die Beine nur angedeutet: Die „Rote Kugel Anne“ ist im Gegensatz zu den vielen anderen „Nanas“ mit bewegten Körperhaltungen in einer starren Pose dargestellt. Die üppigen Formen der Frauenfigur und ihre Körperhaltung rufen Assoziationen mit frühgeschichtlichen Fruchtbarkeitsdarstellungen wie etwa der „Venus von Willendorf“ hervor.

  • Venus von Willendorf, ca. 29.500 Jahre alt

    Diese circa 29.500 Jahre alte, elf Zentimeter hohe und rötlich gefärbte Frauenfigur wurde 1908 bei Ausgrabungen im niederösterreichischen Willendorf in der Nähe von Krems gefunden. Figuren vom Typ der „Venus von Willendorf“ waren von Frankreich bis Russland verbreitet. Viele dieser Skulpturen stellen reife Frauen mit üppigem Bauch und großem Busen dar. Der Kopf der Venus ist nach vorne geneigt, ihre Arme liegen über den Brüsten. Durch die genaue Darstellung der Geschlechtsmerkmale wird die Figur mit Fruchtbarkeit in Zusammenhang gebracht.

Als ich die Nanas machte, wusste ich nichts über die Venus von Willendorf […]. Sie […] sieht genau wie eine meiner Nanas aus.

Niki de Saint Phalle

BIG. BIGGER. HON

Die größte aller „Nanas“ realisiert Niki de Saint Phalle 1966 gemeinsam mit den Künstlern Per Olof Ultvedt und Jean Tinguely; mit Letzterem führt die Künstlerin ab Mitte der 1960er-Jahre zeitweise eine Partnerschaft. Die circa 25 Meter lange, 9 Meter breite und 6 Meter hohe begehbare Skulptur „Hon – en Katedral“ („Sie – eine Kathedrale“) wird für drei Monate im Moderna Museet in Stockholm ausgestellt. Danach ist sie bis auf ihren Kopf, der im Moderna Museet verbleibt, komplett zerstört worden.

Ein kleines plastisches Modell, gefertigt von Niki de Saint Phalle, überträgt Jean Tinguely in eine große Konstruktion: Dabei wird die Figur zunächst als Gerüst aus sechs Tonnen Stahlrohr geschweißt und anschließend mit Hühnerdraht sowie im nächsten Schritt mit in Leim getränkten Stoffbahnen kaschiert. De Saint Phalle bemalt die Figur dann dem Modell entsprechend mit Streifen, Kreisen und Mustern.

Modell für Hon (mit Jean Tinguely), 1966

Wir würden eine Göttin schaffen. [...] Wir nannten unsere Göttin Hon, was auf Schwedisch Sie heißt.

Niki de Saint Phalle

Das Publikum betritt durch die Öffnung zwischen den gespreizten Beinen das Innere der Figur. Bis zu 150 Personen können sich im Inneren der auf dem Rücken liegenden „Hon“ aufhalten. Dort befinden sich verschiedene Attraktionen für Erwachsene: In der rechten Brust ist eine Milchbar von Jean Tinguely untergebracht, in der linken ein Planetarium. Ein Kino in einem Arm präsentiert einen Kurzfilm mit der schwedisch-US-amerikanischen Schauspielerin Greta Garbo in der Hauptrolle. In einem der Beine ist eine Ausstellung gefälschter Gemälde zu sehen. Auf die Schwangerschaft der „Nana“ deutet im Bauch ein Aquarium mit Goldfischen symbolisch hin. Über Treppen gelangt das Publikum zu einer Terrasse auf ihrem gewölbten Leib, von wo aus sich der Blick über den musealen Ausstellungsraum öffnet.

Hon – en Katedral, 1966 (Sie – eine Kathedrale), Ausstellungsansicht, Moderna Museet

De Saint Phalle greift mit „Hon“ zum einen die frühgeschichtliche Vorstellung einer Urzeitgöttin auf, zum anderen das antike Thema des menschlichen Körpers als Gefäß. Zugleich bricht die Künstlerin mit „Hon“ einige Tabus der Zeit im Hinblick auf den weiblichen Körper. Diese Frauenfigur feiert weibliche Stärke und Kraft. Sie macht Körperlichkeit und Sexualität öffentlich, nicht aber als objektbezogene Darstellung menschlicher Nacktheit, sondern als ein Ort, dessen Betreten zu einem mystischen Erlebnis werden soll. Das Werk bewegt die Gemüter und bietet Anlass zu intensiven Diskussionen. Der gesellschaftskritische Aspekt ist jedoch in der Rezeption des Werks oft überschattet worden, da „Hon“ in erster Linie als „Spektakel“ wahrgenommen wird.

Dem Moderna Museet und seinem damaligen Direktor Pontus Hultén geht es mit „Hon“ um ein niederschwelliges Projekt, das auch Besuchende mit weniger privilegierten Hintergründen ins Museum holen soll. Die lustvoll und zugleich ironisch erscheinende „Hon – en Katedral“ wird zu einem großen Erfolg. 100.000 Besucherinnen und Besucher betreten in den drei Monaten der Ausstellung die Figur.

Mehr über den feministischen Diskurs der 1960er-Jahre

De Saint Phalle entscheidet sich früh für die Kunst und gegen die Familie: Sie ist 19 Jahre alt, als sie 1949 den US-Amerikaner Harry Matthews heiratet. Das Paar trennt sich 1960; die beiden gemeinsamen Kinder bleiben beim Vater. Mit dieser Entscheidung widersetzt sich die Künstlerin den gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen in den 1960er-Jahren. Künstlerisch beschäftigt sie sich häufig mit der kollektiven Biografie von Frauen, deren vorgegebene Rolle lange darin bestand, verheiratet zu sein, Kinder zu haben und den Haushalt zu führen. Die Werbung der Zeit bedient dieses Rollenbild zusätzlich. Die Feministinnen der 1960er- und 1970er-Jahre sehen in der oft unsichtbaren Arbeit im Haushalt die Basis für die Machtlosigkeit der Frauen und kritisieren ausdrücklich das soziale und politische System männlicher Dominanz. Obwohl sich de Saint Phalle selbst nie als Feministin bezeichnet oder sich aktiv an den feministischen Bewegungen der Zeit beteiligt, ist ihre Kunst Vorreiterin in Themen, die sich darin abzeichnen. Ihre Werke stellen gesellschaftliche Konventionen infrage und greifen inhaltlich die Rolle der Hausfrau und Mutter, körperliche Selbstbestimmung und Sexualität auf.

Eine Hausfrau auf einem britischen Werbeplakat der 1960er-Jahre

DER VATER: DAS TRAUMA

DER VATER:
DAS TRAUMA

Im Jahr 1994 veröffentlicht Niki de Saint Phalle ihre autobiografische Schrift „Mon Secret“. In Form eines Briefes verfasst, richtet sie die Erzählung ihrer Lebenserinnerungen an ihre Tochter. Die Künstlerin berichtet Laura von sexuellen Übergriffen durch ihren Vater André Marie Fal de Saint Phalle im Sommer 1942. Zu diesem Zeitpunkt war sie elf Jahre alt. Ohne eine vertrauliche Ansprechperson in ihrem nahen Umfeld verdrängt de Saint Phalle das Erlebte und schweigt Jahrzehnte lang über die traumatische Erfahrung sexualisierter Gewalt. In ihrer Kunst schlagen sich immer wieder Wut, Unverständnis und das Bedürfnis einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Erlebten nieder.

Ich wurde Künstlerin, weil es für mich keine Alternative gab.

Niki de Saint Phalle

KONFRONTATION MIT DER KINDHEIT

In den 1970er-Jahren entsteht eine Serie von Figuren mit dem Titel „Verschlingende Mütter“, bei der alternde Frauen im Mittelpunkt stehen. De Saint Phalles Beziehung zu ihrer eigenen Mutter, der US-amerikanischen Filmschauspielerin Jeanne Jacqueline (geb. Harper), ist von deren Strenge, dem Schweigen zur sexualisierten Gewalt durch den Vater und vor allem durch deren Abwesenheit in ihrer frühen Kindheit geprägt. Die Künstlerin versteht diese Serie als eine Art Exorzismus gegen die Angst, von ihrer Mutter verschlungen zu werden oder selbst eine „verschlingende Mutter“ zu sein. Begleitend zur Werkgruppe erscheint 1972 ein Storybook mit demselben Titel. Es greift in farbigen, auf den ersten Blick kindlich-naiv wirkenden Illustrationen die Figuren des Vaters und der Mutter sowie eine Reihe von sich im Œuvre de Saint Phalles wiederholenden Motiven wie Sonne, Vogel und Schlange auf.

The Devouring Mothers, Storybook, 1972 (Die verschlingenden Mütter)

Die Zeichnung zeigt ein kleines blondes Mädchen, das scheinbar unbeschwert seilspringt. Der Schriftzug „me“ („ich“) unten links deutet darauf hin, dass es sich bei der Darstellung um Niki de Saint Phalle selbst als Kind handelt.

The Devouring Mothers, Storybook, 1972 (Die verschlingenden Mütter)

Die Zeichnung demonstriert die Ambivalenz der Vaterfigur: Er trägt die Sonne auf dem Kopf wie der altägyptische Sonnengott, der mit seiner Kraft das Leben auf der Erde überhaupt erst ermöglicht. An der Hand hält er ein kleines blondes Mädchen. Zwei Vögel schweben wie schwerelos links und rechts. Die Inschrift „Daddy’s Birds“ („Vaters Vögelchen“) scheint sich ebenso auf das Mädchen zu beziehen. Die Vögel halten sich in der himmlischen Welt auf, sind zugleich aber ein wichtiges Bindeglied zwischen Himmel und Erde. De Saint Phalle bringt mit ihnen Freiheit und Lebensfreude in Verbindung.

The Devouring Mothers, Storybook, 1972 (Die verschlingenden Mütter)

Ein nacktes Kind mit rosiger Haut und blonden Haaren versucht, einer grünen Schlange zu entkommen, die ihre Zunge weit ausgestreckt hat. Diese Szene deutet symbolisch auf die sexualisierte Gewalt hin, die Niki de Saint Phalle als Kind durch ihren Vater erlebte. Schlangen üben lebenslang sowohl Schrecken als auch Anziehungskraft auf die Künstlerin aus und werden von ihr in verschiedenen Zusammenhängen als ambivalentes sowie symbolträchtiges Bildelement dargestellt. Der christlichen Ikonografie entsprechend ist die Schlange Sinnbild der Verführung. In indigenen Kulturen Mittelamerikas oder im Alten Ägypten hingegen steht sie für den Lebenszyklus von der Geburt über den Tod bis zur Wiedergeburt.

The Devouring Mothers, Storybook, 1972 (Die verschlingenden Mütter)

Die Szene zeigt das Begräbnis des Vaters. Eine bieder wirkende Frau steht vor dem Sarg eines Mannes. Aus seinem Kopf wächst eine goldene Pflanze, die eine rote, an ein Baby erinnernde Figur, trägt. Im Hintergrund ist ein goldener Pfahl zu sehen, daran befestigt ein roter, abstrahiert dargestellter Vogel mit breiten Schwingen. Dessen ausgebreitete Flügel rufen Assoziationen mit einem Totempfahl, aber auch mit der Figur des gekreuzigten Jesus hervor. Die Zeichnung greift motivisch eine Installation auf, die anlässlich des Todes von de Saint Phalles Vater entstanden ist und mit der die Künstlerin aktiv Abschied von ihm genommen hat.

Die Zeichnung zeigt ein kleines blondes Mädchen, das scheinbar unbeschwert seilspringt. Der Schriftzug „me“ („ich“) unten links deutet darauf hin, dass es sich bei der Darstellung um Niki de Saint Phalle selbst als Kind handelt.

Ich würde nicht wie Du werden, Mutter. [...] Für Dich musste alles versteckt sein. [...] Ich wollte alles zeigen.

Niki de Saint Phalle

„Daddy“ kreiert de Saint Phalle 1972 in Kooperation mit Peter Whitehead in Südfrankreich. Dieser Film ist teils in Schwarz-Weiß, teils in Farbe gedreht und hat eine Länge von 90 Minuten. Er bedient sich unter anderem einer Sadomaso-Ästhetik, obgleich entsprechend explizite Handlungen fehlen. Aus heutiger Sicht wirkt er noch immer radikal, gewagt, und das sowohl inhaltlich durch die homoerotischen Andeutungen als auch formal in seiner Lack-und-Leder-Optik. Die Kameraführung ist ebenfalls experimentell und zeigt die über allem thronenden weiblichen Charaktere teils in extremer Untersicht. Durch die Mittel der Überzeichnung und große Experimentierfreude ähnelt „Daddy“ dem politischen Theater der 1960er-Jahre.

Für de Saint Phalle spiegelt dieser Film „ein kollektives Psychodrama […] gegen die Religion, gegen die Unterwerfung von Frauen gegenüber Männern, und vor allem gegen das Bild des Vaters“. Sie selbst spielt darin die Hauptrolle und zwingt eine Person, die den Vater darstellt, zu demütigenden Handlungen. Zum Schluss erfolgt dessen symbolische Tötung, indem die Künstlerin mit einem Gewehr auf ein Werk schießt. Die Arbeit als Regisseurin und zugleich als Schauspielerin bietet Niki der Saint Phalle die Möglichkeit, mit Rollen zu spielen und sich auf verschiedene Art und Weise zu inszenieren: als Frau, Künstlerin, Unterdrückte oder auch Machtausübende.

Niki de Saint Phalle und Peter Whitehead, Daddy, 1973, Filmausschnitt

KRITIK UND PROVOKATION

KRITIK
UND
PROVOKATION
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Die Werke Niki de Saint Phalles eröffnen Denkräume und regen die Zuschauenden immer wieder dazu an, sich kritisch mit gesellschaftlich relevanten Fragen und brisanten politischen Themen auseinanderzusetzen.

De Saint Phalles „Schießbilder“ verweisen kritisch auf eine in den Vereinigten Staaten ausgeprägte Waffenkultur, die bis heute in den USA präsent ist. Sie künden aber zugleich von der Erwartung, dass die schießende Person tatsächlich so weit geht, auf einen künstlichen Körper zu schießen und diesen − je nach Betrachtungsweise − zu töten oder zum Leben zu erwecken. Dadurch erhält bereits der Schaffensprozess eine politische Dimension.

Die ersten „Schießbilder“ entstehen zudem während der Zeit des Algerienkriegs, eines Konflikts um die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich in den Jahren 1954 bis 1962, und thematisieren durch freies Schießen inmitten eines urbanen Umfelds symbolisch die Gewalt.

Close-Up: King Kong

King-Kong, 1962

Close-Up: King Kong

1963 schießt de Saint Phalle auf ihr monumentales Werk „King-Kong“. Diese 2,76 Meter breite und 6,11 Meter lange Arbeit ist aus fünf nebeneinandergesetzten Holztafeln zusammengefügt. Während die „Schießbilder“ zu Beginn aus Fundstücken bestehen, die auf Platten montiert und durch einen Gipsüberzug zumeist unkenntlich geworden waren, sind hier nun Alltagsgegenstände und Plastikspielzeug so angebracht, dass das Werk eine erfassbare Szenerie darstellt. Der Kreislauf von Geburt, Leben und Tod ist dabei mit den Bedrohungen der Zeit verquickt.

King-Kong, 1962, Detail

Unterhalb einer Gebärenden sind zwei Kinder zu sehen, rechts darunter ein Brautpaar, wobei das Gesicht des Bräutigams einem Totenkopf ähnelt. Deutet diese Verbindung von Braut und Tod darauf hin, dass durch die Heirat die Individualität der Frau „stirbt“, weil sie auf ihre Rolle als Gebärende und Mutter fixiert wird? Oder steht der Totenkopf eher für die Allgegenwart der Sterblichkeit im Kreislauf des Lebens?

King-Kong, 1962, Detail

Die Masken führender Politiker und Denker der Zeit repräsentieren die beiden Hemisphären: Nikita S. Chruschtschow, John F. Kennedy, Mao Tse Tung, Fidel Castro und George Washington. „King-Kong“ entsteht zu einem Zeitpunkt, als die politische Weltlage eskaliert. Die USA und die Sowjetunion kommen während der Kubakrise von 1962 einer militärischen Konfrontation und somit einem möglichen Atomkrieg bedrohlich nahe. In der unteren Reihe sieht man hingegen andere Masken, die der gesamten Darstellung auch eine humorvolle Note verleihen, z. B. die vom Weihnachtsmann.

King-Kong, 1962, Detail

Die aus Filmen vertraute Welt der Monster prägt diese Szene. Ein Ungeheuer schreitet auf eine Stadt zu. Erinnert man sich z. B. an den Film „King Kong und die weiße Frau“ von 1933, in dem ein Riesengorilla in Manhattan herumklettert, so wird die Parallele deutlich. Das Ungeheuer hier erinnert allerdings eher an das japanische Filmmonster Godzilla. Es wird 1954 durch Atomtests aus seinem Schlaf geweckt und verkörpert gegenwärtige japanische Traumata: Die Schrecken der Atombombenabwürfe der USA auf Hiroshima und Nagasaki liegen damals noch keine zehn Jahre zurück.

Der mit farbigen und spiegelnden Elementen verzierte Totenkopf öffnet sich und lädt in seinem Inneren durch eine Bank zum Verweilen ein. Der bunte Schädel lässt an den mexikanischen „El Día de los Muertos“ („Tag der Toten“) denken, während dem das Gedenken an Verstorbene im Vordergrund steht. Die Schädel, die für diesen Festtag in den unterschiedlichsten Ausführungen angefertigt werden, fungieren als symbolische Erinnerung an die Kürze des irdischen Lebens. Niki de Saint Phalle besucht Mexiko und New Mexiko 1977 und lässt sich immer wieder von dort Gesehenem inspirieren. Die Installation, die das Thema „Leben und Tod“ aufgreift, kann auch im Kontext der seinerzeit virulenten AIDS-Krise gelesen werden: Zwei Personen aus dem engsten Umkreis der Künstlerin sterben daran. De Saint Phalle selbst gehört zu den ersten Künstlerinnen und Künstlern, die sich dem Kampf gegen AIDS anschließen.

Skull, Meditation Room, 1990 (Schädel, Meditationsraum) Skull, Meditation Room, 1990 (Schädel, Meditationsraum)

Mehr über das Engagement de Saint Phalles gegen AIDS

Von 1983 bis 1986 schreibt und illustriert Niki de Saint Phalle das Bilderbuch „Vom Händchenhalten kriegt man’s nicht“ in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Immunologen und AIDS-Spezialisten Silvio Barandun. In Form eines Briefes an ihren Sohn Philip informiert sie darin in ihrem charakteristischen Stil über die Übertragung des HI-Virus durch ungeschützten Geschlechtsverkehr oder die gemeinsame Nutzung von Spritzen beim Drogenkonsum und räumt mit falschen Vorurteilen auf. Weitsichtig propagiert das Buch einen pragmatisch-nüchternen Umgang mit der Krankheit, appelliert an die Menschlichkeit und tritt der Stigmatisierung an AIDS erkrankter Menschen entgegen. Es erscheint in mehreren Sprachen und wird an Schulen in ganz Frankreich verteilt. Der Erlös kommt gespendet AIDS-Stiftungen zugute. Niki de Saint Phalles Sohn Philip Mathews produziert in Zusammenarbeit mit ihr und basierend auf ihrem Buch einen Animationsfilm über AIDS, der 1990 in Paris Premiere feiert. Die Künstlerin setzt sich auch später mit Kurzfilmen und TV-Spots für die AIDS-Aufklärung ein. 1991 nimmt sie an der „Stop AIDS“-Kampagne in der Schweiz teil, zu der sie eine Reihe von Entwürfen kreiert und den Informationsbus mit einem gigantischen Kondom als Freiluftballon dekoriert.

Attention Dragueurs!, 1990/91 (Achtung Aufreißer!)

Ende 1993 zieht sich Niki de Saint Phalle aus gesundheitlichen Gründen in die USA zurück und lässt sich in Südkalifornien nieder. 2001 entsteht eine Serie von Grafiken, die sich in eine lange Reihe piktografischer Briefe seit den 1960er-Jahren einfügen. Hier verhandelt die Künstlerin zahlreiche öffentliche Diskurse, die bis heute relevant sind.

Guns, 2001 (Schusswaffen)

Die Zeichnung zeigt in der Mitte drei tote Kinder. Ein blondes Mädchen ruft nach Hilfe. Umgeben sind diese grausam verletzten Figuren von Darstellungen verschiedener Waffen. Der Schriftzug, der sich diagonal durch das Bild zieht, lautet: „Bevorzugen Amerikanerinnen und Amerikaner Waffen statt Kinder?“ Niki de Saint Phalle setzt sich hier mit der mangelnden Regulierung der Waffenindustrie und des Waffenerwerbs in den USA auseinander; die National Rifle Association (NRA), eine 1871 in den USA gegründete Organisation für das Sportschießen und Training mit Schusswaffen, prangert sie direkt an.

Abortion – Freedom of Choice, 2001 (Abtreibung – Wahlfreiheit)

Niki de Saint Phalle verteidigt die Rechte der Frauen, insbesondere das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Eine Frau im bunten Kleid berichtet über ihre aktuelle Situation: Sie hat vier Kinder, einen Mann, der sie misshandelt, und kein Geld. Niki de Saint Phalle weist darauf hin, dass 2001 (dem Entstehungsjahr des Werks) 800 Millionen Menschen weltweit an Hunger leiden. Mit Schriftzügen, Sprechblasen und Zeichnungen thematisiert sie kritisch Angriffe auf Abtreibungskliniken und häusliche Gewalt. Sie verweist zudem auf die erste Abtreibungspille „RU 486“, die in Frankreich damals bereits seit zehn Jahren angewendet wird. Entwickelt hat sie der französische Wissenschaftler und Hormonforscher Etienne Beaulieu, ein guter Freund der Künstlerin.

Global Warming, 2001 (Globale Erwärmung)

De Saint Phalle illustriert die Gefahren, denen unser Planet ausgesetzt ist: Die Künstlerin hat früh den Ernst der Bedrohung für das Leben auf der Erde erkannt, die durch die globale Erwärmung, nicht nachhaltige Landbewirtschaftung und die Zerstörung der Natur verursacht wird. Sehr kritisch sieht de Saint Phalle die Politik des damaligen US-Präsidenten George W. Bush, der − nach ihrer Meinung − die Vernachlässigung der Umweltprobleme verkörpert.

Die Zeichnung zeigt in der Mitte drei tote Kinder. Ein blondes Mädchen ruft nach Hilfe. Umgeben sind diese grausam verletzten Figuren von Darstellungen verschiedener Waffen. Der Schriftzug, der sich diagonal durch das Bild zieht, lautet: „Bevorzugen Amerikanerinnen und Amerikaner Waffen statt Kinder?“ Niki de Saint Phalle setzt sich hier mit der mangelnden Regulierung der Waffenindustrie und des Waffenerwerbs in den USA auseinander; die National Rifle Association (NRA), eine 1871 in den USA gegründete Organisation für das Sportschießen und Training mit Schusswaffen, prangert sie direkt an.

WERKE ALS WELTEN

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Niki de Saint-Phalle in ihrem Studio in Soisy

In ihrem monumentalen „Tarotgarten“ in der südlichen Toskana vereint Niki de Saint Phalle nahezu alle Facetten ihres künstlerischen Schaffens und zieht mit großen Architekturen männlicher Kollegen gleich.

Bereits in den 1950er-Jahren besucht Niki de Saint Phalle neben dem „Park Güell“ in Barcelona Joseph Ferdinand Chevals „Palais Idéal“ im französischen Hauterives und die „Watts Towers“ von Simon Rodia in Los Angeles.

In ihr wächst die Vorstellung, eines Tages selbst eine große Parkanlage zu schaffen.

Die Bekanntschaft mit der italienischen Kunstsammlerin und Fotografin Marella Caracciolo-Agnelli eröffnet ihr zwei Jahrzehnte später die Möglichkeit, in einem stillgelegten Steinbruch ihren Traum zu verwirklichen. Die Brüder Carlo und Nicola Caracciolo stellen de Saint Phalle das Terrain nahe Capalbio im Nordwesten Roms zur Verfügung.

1975 beginnt sie, ihren „Tarotgarten“ zu konzipieren, und entwirft während eines Kuraufenthaltes zur Erholung ihrer Lunge in den Schweizer Alpen erste Skizzen und kleinformatige Modelle. In der Bauphase des Gartens zwischen 1978 und 1998 leidet sie unter starken Schüben rheumatischer Arthritis, die ein Arbeiten nur unter Schmerzen zulassen. Dank der Unterstützung eines vielköpfigen Teams, darunter Jean Tinguely, Seppi Imhof und Rico Weber, beendet de Saint Phalle das Großprojekt am 15. Mai 1998 mit der offiziellen Eröffnung des Gartens für Besucherinnen und Besucher.

Ich hatte immer schon den Traum, architek-
tonische Dinge zu schaffen. Es begann mit meinen Skulpturen, die dann größer und größer wurden.

Niki de Saint Phalle

Der „Tarotgarten“ umfasst 22 teilweise begeh- und bewohnbare Monumentalskulpturen, die mit farbigen Mosaiksteinen, Keramik- und Spiegelscherben verkleidet sind. Ihre Motive entlehnt de Saint Phalle den 22 Karten der „Großen Arkana“ im Tarot. Die mit Personen und diversen Szenerien bebilderten ersten Karten im Tarot-Deck sollen große Entscheidungen und einschneidende Lebensereignisse anzeigen. De Saint Phalle beschäftigt sich schon seit den 1960er-Jahren mit Tarot. Sie beschreibt, für sich darin die Weitsicht gefunden zu haben, schwerwiegende Probleme des Lebens als Prüfungen auf dem Weg zu innerer Ruhe und Ausgeglichenheit zu verstehen.

Magicien – House of Meditation, 1978 (Magier – Haus der Meditation), Modell für den „Tarotgarten“

Das Modell von 1978 bezieht sich auf die erste Karte der „Großen Arkana“ im Tarot, den „Magier“, von der Künstlerin als Karte des göttlichen Schöpfers bezeichnet. Im „Tarotgarten“ kombiniert de Saint Phalle die Skulptur mit ihrer Interpretation der Tarotkarte „Die Hohepriesterin“ (zweite Karte), die für die intensive Kraft weiblicher Intuition steht. Der Kopf der Figur des „Magiers“, wie im Modell bekrönt von einer geöffneten Hand, wächst in der realisierten Doppelskulptur aus dem größeren Kopf der „Hohepriesterin“. Aus deren offenem Mund fließt Wasser in ein rundes Bassin.

The Falling Tower, 1974 (Der fallende Turm), Modell für den „Tarotgarten“

Die Karte „Der Turm“ zeigt im Tarot das titelgebende Bauwerk auf instabilem Fundament. In die Turmspitze schlägt ein Blitz ein. Im Modell von 1974 fehlt der fatale Einschlag, der Turm ist bereits in zwei Teile gebrochen. Im Verhältnis kleine menschliche Figuren liegen am Boden oder stürzen aus den runden Öffnungen in der Turmfassade. Die später realisierte Skulptur betitelt de Saint Phalle mit „Der Turm von Babel“ und verknüpft so die Tarotkarte mit der biblischen Erzählung vom vereitelten Versuch der Menschen, mit dem Bau eines bis in den Himmel reichenden Turmes Gott nahe und gleichzukommen. Jean Tinguely stiftet eine den Blitz symbolisierende Maschine.

Le Monde, 1990 (Die Welt)

„Die Welt“ ist die letzte Karte der „Großen Arkana“ im Tarot und zeigt das erfolgreiche Erreichen eines Ziels oder die Vollendung einer Reise an. In Niki de Saint Phalles Skulptur von 1990 tanzt eine „Nana“ in Blau unbeschwert über einer goldenen Kugel, die von einer mehrfarbigen Schlange umwunden ist. Die Schlange kann hier als männlicher Gegenpart des Weiblichen – der „Nana“-Figur – gedeutet werden. Sie erscheint immer wieder in Werken der Künstlerin und kann als Symbol gegensätzliche Assoziationen provozieren: Angst und Faszination, Sünde und Neubeginn.

Sphinx, undatiert

Eine schwarze „Nana“ mit vier großen tierischen Klauen verkörpert im Garten de Saint Phalles die Tarotkarte „Die Herrscherin“. Ihre Darstellung entlehnte die Künstlerin dem Bild der Sphinx aus der antiken Mythologie. „Die Herrscherin“ wird 1982 als erste und größte Skulptur im „Tarotgarten“ realisiert. Sie ist das Sinnbild des Weiblichen in all seinen Facetten, bezeugt weibliche Schöpfungskraft und fungiert für de Saint Phalle als mütterliche Gottheit.

Das Modell von 1978 bezieht sich auf die erste Karte der „Großen Arkana“ im Tarot, den „Magier“, von der Künstlerin als Karte des göttlichen Schöpfers bezeichnet. Im „Tarotgarten“ kombiniert de Saint Phalle die Skulptur mit ihrer Interpretation der Tarotkarte „Die Hohepriesterin“ (zweite Karte), die für die intensive Kraft weiblicher Intuition steht. Der Kopf der Figur des „Magiers“, wie im Modell bekrönt von einer geöffneten Hand, wächst in der realisierten Doppelskulptur aus dem größeren Kopf der „Hohepriesterin“. Aus deren offenem Mund fließt Wasser in ein rundes Bassin.

Louise Faure und Anne Julien, Niki de Saint Phalle: Der Tarotgarten, 2014, Filmausschnitt

Angeregt durch die kleinteilige Oberflächengestaltung Antoni Gaudís im „Park Güell“ in Barcelona setzt de Saint Phalle in ihrem „Tarotgarten“ farbige Glassteine und Spiegelscherben auf die in Beton gegossenen Skulpturen. Sich darin spiegelnde Bäume und Pflanzen „beleben“ die harten Oberflächen und lassen Natur und Kunst im Blick der Betrachtenden ineinander verschmelzen. Auch die Innenräume der Skulptur „Die Herrscherin“ dekoriert de Saint Phalle mit einem Mosaik aus Spiegelfliesen. Sieben Jahre lang wohnt und arbeitet die Künstlerin in der übergroßen Sphinx.

Skulptur, Natur und Mensch harmonisch in Beziehung zu setzen, ist de Saint Phalles Konzept für ihren „Tarotgarten“. Dabei bemüht sich die Künstlerin, möglichst wenig in die vorgefundene Landschaft des ehemaligen Steinbruchs einzugreifen: Die linke Tatze der monumentalen Skulptur „Die Herrscherin“ wird beispielsweise um einen dort gewachsenen Olivenbaum herum errichtet.

Mehr zur finanziellen Selbstständigkeit Niki de Saint Phalles

Die Realisierung von Niki de Saint Phalles „Tarotgarten“ ist nicht nur zeit- und arbeitsintensiv, sondern verursacht auch immense Ausgaben in Höhe von mehr als fünf Millionen US-Dollar. De Saint Phalle finanziert ihr Großprojekt selbst, um ihre künstlerische Vision autark und ohne fremden Einfluss verwirklichen zu können. Dafür schafft sie Kunsteditionen, etwa Grafiken in Serien oder Abgüsse ihrer Skulpturen, vertreibt aufblasbare „Nanas“ und entwirft unter anderem Möbelstücke, Schmuck und Lampen. Animiert durch die US-amerikanische Unternehmerin Jacqueline Cochran gestaltet de Saint Phalle 1982 einen eigenen Parfümflakon. Zwei aufrecht umeinander gewundene Schlangen zieren den goldfarbenen Deckel des Fläschchens aus tiefblauem Glas. Den Erlös aus dem Verkauf investiert die Künstlerin unmittelbar in ihren Garten, ein Großteil der Kosten kann so gedeckt werden. Die breite Verfügbarkeit des kommerziellen Produkts bewirkt zugleich, dass die Popularität de Saint Phalles weiter zunimmt.

Parfümflakon, 1982

Im belgischen Knokke-le-Zoute errichtet Niki de Saint Phalle in Zusammenarbeit mit Jean Tinguely und Rico Weber zwischen 1973 und 1975 ein privates Spielhaus in Form eines Drachens für die Kinder des Malers Roger Nellens. Das Spielhaus lädt zum Klettern, Besteigen und Durchlaufen ein. Im kindlichen Spiel wird die Kunst de Saint Phalles so unmittelbar erlebbar.

Die realisierte, begehbare Skulptur misst in der Höhe 6 Meter und ist insgesamt 33 Meter lang. Im Inneren beherbergt der „Drache Knokke“ zwei Schlafzimmer, Bad, Küche und ein Spielzimmer; über seine lange Zunge können die Kinder ins Freie auf die Wiese rutschen. Während de Saint Phalle das Motiv des Drachens in anderen Werken mitunter als wildes, dämonisches Monster vorführt, erscheint er in der Variante des Spielhauses vielmehr als freundliches, mit floralen Motiven, Sternen und Tieren bemaltes Fantasiewesen. 1987 übernachtet der US-amerikanische Künstler Keith Haring im „Drachen Knokke“. Anschließend gestaltet er mit Einverständnis de Saint Phalles ein Wandbild entlang der Treppe.

Le Dragon Knokke, 1973 (Der Drache Knokke)

GEHEIMTIPP

Geheim-
Tipp

Aus der Form geraten, alt und emotionslos – die weibliche Figur am Schminktisch aus de Saint Phalles Serie „Verschlingende Mütter“ der 1970er-Jahre blickt aus schwarzen leeren Augen auf ihr Spiegelbild. Das Gesicht wirkt maskenhaft-grotesk. In ironischer Brechung zeigt de Saint Phalle nicht das gesellschaftlich akzeptierte Ideal einer schönen jungen Frau und Mutter, sondern deren Gegenbild im Alter. Ihre Figur widmet sich einer täglichen belanglosen Tätigkeit: der Körperpflege.

La Toilette, 1978 (Die Körperpflege)

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